GEW Studis auf der Kundgebung zum 01. Mai 2021 in Potsdam. Alle Rechte vorbehalten.

Redebeitrag zum ersten Mai 2021 - DGB Kundgebung in Potsdam

Liebe Kolleg*innen, 
Es ist der zweite "erste Mai" zu Pandemiezeiten. Man sollte meinen, dass gerade in Zeiten von Corona wieder einmal deutlich wird, dass wir nicht am Ende unseres Kampfes sind. Ganze Lebenszusammenhänge leiden seit über einem Jahr unter dem Kurzarbeitergeld. Der 12-Stunden-Tag wurde im Frühjahr 2021 kurzfristig auf dem Rücken von Arbeiter*innen in sogenannten "systemrelevanten Berufen" wieder eingeführt. Der bundesweite Tarifvertrag in der Altenpflege scheitert an der Caritas. Die  großen Arbeitgeber, wie Lufthansa, Galeria-Kaufhof-Karstadt, TUI, Sixt oder ThyssenKrupp, erhalten unkomplizierte Soforthilfe. Doch wenn internationale Unternehmen Geld vom Staat bekommen, kommt das selten den Beschäftigten zu gute. Während die Beschäftigten in Kurzarbeit geschickt werden und damit die Lohnkosten radikal sinken, zahlen BASF, Daimler, Volkswagen und Co. Millarden an Dividenden an ihre Anteilseigner aus. Im gleichen Moment stehen viele kleine und mittelständige Unternehmen, die vor allem die ostdeutsche Unternehmenslandschaft ausmachen, vor dem Bankrott; die Beschäftigten vor dem Arbeitsplatzverlust - und (oft) junge Menschen, die ihren Bildungsweg noch gar nicht abgeschlossen haben, Studierende, müssen sich jetzt verschulden, um ihr Studium weiter zu führen, während der Staat mit ihrer Not Profite macht. 
Da läuft doch alles schief! 

Gleichzeitig werden ganze Gruppen von Menschen vollkommen vergessen. Dazu gehören Geflüchtete, die in Lagern eingesperrt sind, keinen Abstand halten können, sich nicht isolieren können, oder an den europäischen Außengrenzen leiden. Dazu gehören auch ausländische Saisonarbeiter*innen, die teilweise in Containern ohne ausreichenden Gesundheitsschutz wohnen müssen und nun - inmitten einer Pandemie - vier Monate ohne Kranken- und Sozialversicherung arbeiten "dürfen", während deutsche Erntehelfer*innen 2020 von den Medien als "Held*innen" gefeiert wurden. 
All diese Dinge klingen in unseren Ohren so dramatisch, dass man meinen könnte, wir hätten sie uns zu populistischen Zwecken ausgedacht. Das ist nicht der Fall. Das sind die "goldenen 20er"!

Fragt man eine Person: "Willst du lieber ein gutes Leben oder ein schlechtes Leben haben?" wird sie sagen, "Ein Gutes.". Fragt man weiter, was denn dafür wichtig sei, kommt man häufig auf die Anwort: Gesundheit, finanzielles Auskommen, ein liebevolles und stabiles soziales Umfeld (Freund*innen, Familie, Partner*innenschaft) und ein Zuhause, in dem man sich wohl fühlt. Überall werden diese Grundpfeiler des guten Lebens aktuell angegriffen und wir, die Gewerkschaften, verharren im "Weiter wie bisher". Wir müssen uns aber wandeln, weil die Welt sich wandelt. Wir alle wollen immer noch das gute Leben, mit guten Arbeitsbedingungen, auskömmlicher Entlohnung und Zeit für anderes - aber der Weg, wie wir dahin kommen können, hat sich gewandelt. Die Waffen derjenigen, die anzweifeln, dass alle Menschen, unabhängig von Herkunft, Hautfarbe und, ja, auch des Erwerbsstatus, ein gutes Leben haben können müssen, haben sich gewandelt: Unionbusting, Scheinbeteiligung, Populismus, Verschwörungmythen, Vereinzelung und Kapitalismus. 

Dabei sind wir mitten in einer größten Krisen der Menschheit. Nein, wir meinen nicht Corona, wir meinen die Klimakrise. Die Pandemie wird sich eingrenzen lassen, Corona und zukünftige Pandemien werden nicht ganz verschwinden, aber das so oft eingeforderte "normale Leben" wird wieder möglich sein. Doch dieses normale Leben, was wir hier führen, geht massiv zulasten des Klimas und damit Zulasten der jüngeren Generationen. 
Wenn wir das Klima schützen wollen - wenn es um unser JETZT geht und um unsere Zukunft - dann wird es eine Transformation brauchen. Eine Transformation, die auch einen Strukturwandel in der Arbeit mit sich bringen wird. Wir stehen nicht mehr am Anfang, sondern wir sind mittendrin. Und wenn dieser Wandel nicht an uns vorbei passieren soll, dann müssen wir auch uns verändern. Wir müssen basisdemokratischer, mutiger, kämpferischer und selbstbewusster werden! Wir dürfen keine Angst davor haben, über die Zukunft und Utopien zu diskutieren! Wir müssen mehr Beschäftigte erreichen, sie einbeziehen und Kämpfe führen und gewinnen! 

Im Osten sind die Gewerkschaften schwach und die Tarifbindung eher niedrig, heißt es. Die Zerschlagung und Schließung eines großen Teils der ehemaligen Staatsbetriebe durch die Treuhand, hat verheerende Auswirkungen bis heute. Damals waren die westdeutschen DGB Gewerkschaften im Verwaltungsrat der Treuhand-Anstalt vertreten, konnten dessen Kurs der schnellen Privatisierung mit all ihren Brüchen also teilweise mitbestimmen. Zum Schutz der westdeutschen Arbeitsplätze und aus Angst vor der ostdeutschen Konkurrenz wurden Schließungen hingenommen, die Solidarität mit den ostdeutschen Arbeiter*innen hielt sich in Grenzen.
Auch wurden in den Betrieben teilweise Arbeitskämpfe ohne die Gewerkschaften oder mit neugegründeten Gewerkschaften, wie der NGG Ost, bestritten. Bischofferode ist hier vermutlich das bekannteste Beispiel. Die jüngere Zeitgeschichte zum Thema "Wiedervereinigung" ist noch nicht aufgearbeitet. Es ist aber bereits sichtbar, dass es hätte besser laufen können und dass die Gewerkschaften vielleicht solidarischer, umsichtiger und aktiver zugleich hätten sein können. Die Wendezeit bedeutete einen schnellen Bruch, statt einer gemächlichen Annäherung. 

Und vor einem solchen Bruch stehen wir wieder! Auch wir haben die Klimakrise nicht rechtzeitig als die existenzielle Krise anerkennnen wollen, die sie ist. Doch diesmal muss es besser laufen - und besser heißt nicht ohne uns! 
Dabei müssen wir uns an die Spitze des Strukturwandels stellen und dürfen auch vor mutigen Forderungen nicht zurückschrecken. Wir müssen das gute Leben mit einem schnellen Ausstieg aus der Kohle verbinden. Wir dürfen uns nicht als Gegner*innen der Klimabewegung sehen, sondern als deren Partner und gemeinsam um gute Lösungen ringen. Noch können wir diesen Prozess gestalten, bevor wir nur noch passiv auf Hiobsbotschaften reagieren können.
Die Wende stellte die Systemfrage sowie die Klima- und Coronakrise sie heute dringender denn je stellen. Sowohl damals als auch heute lautet die Krise Kapitalismus. Erwerbslosigkeit ist ein Krisenphänomen - und kein individuelles Versagen - und wir als Gewerkschaften sind gefordert uns dieser Thematik offensiver zu stellen.

Wir möchten einen letzten Grund nennen, warum wir uns als Gewerkschaften wandeln müssen: In zweieinhalb Stunden werden sich auf diesem Platz, da wo wir aktuell stehen, die Menschenfeinde der AfD versammeln. Die AfD hat in ihren Reihen Antidemokraten und Neo-Faschisten, sie werten die "Deutschen" auf und die "anderen" ab. Den Grundsatz der Gleichwertigkeit aller Menschen erkennen sie nicht an. Sie treffen sich heute am 1. Mai, dem Tag der Arbeiter*innen, unter dem Motto "Sozial ohne Rot zu werden" - und wir? Wir machen ihnen Platz!

Rückschau auf den April 1933: 
  • Goebbels notiert: "Den 1. Mai werden wir zu einer grandiosen Demonstration deutschen Volkswillens gestalten. Am 2. Mai werden dann die Gewerkschaftshäuser besetzt. Gleichschaltung auch auf diesem Gebiet (...). Es wird vielleicht ein paar Tage Krach geben, aber dann gehören sie uns." 
  • Hitler erklärt den 1. Mai zum "Feiertag der nationalen Arbeit".

Es besteht kein Zweifel daran, dass Teile der AfD an diesen Weg anknüpfen wollen. Und nein, das heißt nicht, dass alle AfD-Wähler*innen Nazis sind, sondern dass alle AfD-Wähler*innen, Faschist*innen tolerieren und ihnen helfen, ihre Normalisierungstrategie umzusetzen. Aber das heißt nicht, dass nicht einige der angegebenen Gründe der AfD-Wähler*innen für ihre Wahlentscheidung nicht valide sind, dass die Ängste nicht real sind. 
Aber für uns ist klar: Ungleichwertigkeitsideologien können nie Grundlage unseres Handelns sein. Den Problemen und Ängsten ist solidarisch zu begegnen. 
Dass der DGB Kreisverband auf Anfrage der Jugend nicht bereit war, ihr Konzept für diese Kundgebung im Angesicht der AfD anzupassen, ist für uns ein Armutszeugnis. Deswegen rufen wir euch auf: Bleibt noch hier. Überlasst den rechten Menschenfeinden nicht den Platz und schließt euch dem Gegenprotest an, der ab 16.00 Uhr vor dem Filmuseum angemeldet ist. Nehmt die Gewerkschaftsfahnen mit. Damit sich 1933 nicht wiederholt, sagen wir: 1. Mai Nazifrei! 

Wir hätten jetzt viel mehr über die Stituation der Studierenden während Corona erzählen können, über das Wegbrechen der Nebenjobs, über das Versagen der Bundesregierung, Abhilfe zu schaffen, über die Novellen des Brandenburgischen Hochschulgesetzes sowie des Landespersonalvertretungsgesetzes, an denen wir gerade intensiv arbeiten... Aber die Dringlichkeit einer gewerkschaftlichen und gesellschaftlichen Transformation ist höher und wir wollten diese Gelegenheit nutzen, um dazu das Wort an euch zu richten. 
Wir setzen uns im Rahmen unserer Tätigkeiten für eine Demokratisierung von Hochschulen, für ein Ende von Befristung und Prekarität und die Gleichbehandlung aller Beschäftigten an Hochschulen ein. Betriebliche Kämpfe, genauso wie Kämpfe um die Demokratisierung von Strukturen, sind Kommunikation. Wir zeigen damit allen, die die Demokratie schwächen wollen, dass kollektive Selbstwirksamkeit das wirksamste Mittel gegen den Faschismus ist. Im Angesicht aller Krisen, denen wir gegenüber stehen, ist das einer der wichtigsten Beiträge, den wir leisten können und müssen.

In diesem Sinne: Lasst uns uns gemeinsam wandeln und sagen: "Her mit dem guten Leben!" Danke.