Redebeitrag: Solidarische Zukunft statt Kapitalismus
1 Corona und Studium
¾ der Studierenden in Brandenburg arbeiten neben dem Studium. Die wenigsten zum Spaß. Die meisten, weil sie sich nur so das Studium leisten können. BAföG, ein halbes Darlehen vom Staat, bekommt fast niemand mehr. Gerade mal 12%. Mit Corona sind vielen Studis die Nebenjobs weggebrochen – insbesondere in der Gastro- und Kulturbranche. Es gab vermehrte finanzielle Notlagen, Studienabbrüche und eine lächerliche Staatshilfe, die überwiegend aus Krediten zu miesen Konditionen bestand.
Natürlich traf die Corona-Pandemie nicht alle gleich: Studierende, die als erste in ihrer Familie ein Studium aufgenommen haben, haben häufiger nicht das Selbstbewusstsein ein Studium trotz der ganzen Widrigkeiten, die das Leistungssystem und nun auch Corona an sie stellen, weiterzuführen, wie es die Menschen mit Akademiker*inneneltern meist haben. Studierende, deren Eltern arm sind oder deren Eltern zuvor prekär beschäftigt waren und durch Corona arm geworden sind, die sich mit einem oder mehr Jobs das Studium finanziert haben, können dies nun nicht mehr tun.
Aber auch die Isolation setzt den Studierenden zunehmend zu. Das Studium ist für viele mit einem Umzug verbunden, weshalb die sozialen Netzwerke schwächer sind. Schon vor Corona stieg die Zahl der psychischen Erkrankungen unter Studierenden aufgrund des Leistungsdrucks stetig an. Corona gab dieser Entwicklung nur einen Boost. Natürlich betrifft das nicht nur Studierende. Vermutlich sind sehr viele unter euch oder in eurem direkten Umfeld, die schon einmal einen Therapieplatz gesucht haben. Ihr werdet das Problem kennen. Die Politik schafft auf diesem Feld übrigens mit ihrer Idee der Kassensitze eine künstliche Knappheit an Therapieplätzen. Eigentlich gäbe es viel mehr Therapeut*innen, die bereit wären, Kassenpatient*innen aufzunehmen. Aber das Krankenkassensystem ist noch einmal ein Thema für sich.
Jetzt werden diese bekannten Probleme aber instrumentalisiert, um verfrühte Lockerungen und weitere Maßnahmen zu rechtfertigen, die die Wirtschaft für einen besseren Infektionssschutz einschränken würden. Dabei wird zugelassen, dass dieses Thema von Cornoa-Verharmloser:innen und -leugner:innen besetzt wird.
Das dürfen wir nicht zulassen. Tatsächlich gehören Menschen mit schweren psychischen Belastungen zur Risikogruppe, aber Jens Spahn plant Treffen mit verwirrten und verwöhnten Schauspieler:innen.
Stattdessen müssen jetzt erstens wirkliche Aufklärungsarbeit gegen die Stigmatisierung von psychischen Erkrankungen geleistet werden, zweitens nachhaltig eine bessere Therapieinfrastruktur geschaffen werden und drittens psychischen Belastungen vorgebeugt werden.
Auch hier gilt: Wir sind alle – jetzt oder zukünftig – Patient*innen! Und deshalb geht das Versagen der Gesundheitssteuerung und die Ökonomisierung des Gesundheitssystems uns alle was an!
2 Wissenschaft, Arbeit, Befristung, Pandemie
Wissenschaftler*innen waren für die einen die Held*innen für die anderen die Feind*innen in der Pandemie. Wir möchten euch einen kurzen Einblick in die Arbeitswirklichkeit der Hochschulen geben. Den Ort, wo das Wissen, auf das sich alle die ganze Zeit beziehen, um die Pandemie zu bewältigen, erarbeitet wird. Denn Wissenschaftler*in ist ein Beruf, keine gottgegebene Berufung – auch wenn das viele nicht so ganz wahrhaben wollen. Die Corona-Pandemie hat alle ins Home-Office geschickt. Für viele war das gut möglich, da sie praktischerweise schon einen Arbeitsplatz zuhause hatte, von dem aus sie die unbezahlten Überstunden am Wochenende oder am Abend gemacht haben. Für Menschen mit Kindern und Care-Aufgaben sah die Welt, wie in allen Branchen, mit der Schließung von Schulen und Kitas plötzlich ganz anders aus. Menschen, die Sorgearbeit ernst nehmen, häufig Frauen, sehen sich bereits weniger in die Lage versetzt in der Wissenschaft zu langfristig zu arbeiten, Corona war da für viele der letzte nötige Tritt vors Schienbein. Denn während in der sog. Freien Wirtschaft immerhin 90% der Beschäftigten unbefristete Arbeitsverträge haben, sind es in der Wissenschaft gerade mal 10%. In dieser ständigen Prekarität lässt es sich schlecht leben, und (?)wenn man sich um andere sorgt oder Familie hat noch mieser.
3 Wissenschaftsfeindlichkeit und Wissenschaftsreflexion
Ohne die Erkenntnisse moderner Forschung und Wissenschaft hätten wir keine guten Bewältigungsstrategien gegen das Virus entwickeln können. Diese Ergebnisse verdanken wir guter wissenschaftlicher Praxis. Doch nicht immer wurden wissenschaftliche Erkenntnisse genutzt und diese gute wissenschaftliche Praxis ist gefährdet:
Es wurde in letzter Zeit viel über DIE Wissenschaft gesprochen. Aber die die eine Wissenschaft gibt es in dieser Form nicht. Im Gegenteil: Wissenschaft – und Erkenntnisfortschritt – leben von der Heterogenität der Forscher*innen, der Paradigmen, der Ideen und der Methoden, sie leben vom Zweifel, vom Überprüfen und Nachvollziehen, von Theorie und vom Zeit zum Nachdenken und sorgfältigen Arbeiten. Genau das ist jedoch der Common Sense, der von verschiedenen Spielarten der Wissenschaft akzeptiert wird und der Erkenntnisse auf eine bestimmte Art und unter Reflexion seiner Methoden hervorbringt. Diese Kriterien guten wissenschaftlichen Arbeitens lassen uns wissenschaftliche Arbeiten von unwissenschaftlichen Arbeiten unterscheiden. Allerdings kann, wer in derartiger Prekarität lebt und ständig neue Artikel und Bücher veröffentlichen muss, um eine Chance auf weitere Jobs zu haben, sich dem nicht in dem Ausmaß der Genauigkeit und Reflexion des guten wissenschaftlichen Arbeitens widmen, wie er*sie es vllt. selber gerne würde. So wird Wissenschaft durchschnittlich oberflächlicher, Überprüfungen seltener, kleine methodische Schummeleien, die zu spektakuläreren Ergebnissen führen, häufiger, es gibt einen erhöhten Anpassungsdruck und kritische Wissenschaft wird seltener.
Das öffnet auch Tür und Tor für den – oft politischen – Missbrauch Status, Titeln und Prestige in einem stark hierarchischen System, auf den sich auch die Corona-Leugner*innen zum Teil beziehen. Dennoch: Alle Wissenschaftler*innen sind Menschen und keine Forschung ist vollkommen "neutral". Der Faktor Mensch lässt sich nicht komplett wegkürzen. Man kann nur probieren, die Nachvollziehbarkeit, die Überprüfbarkeit und Reflexion dieses Umstandes mit einzubeziehen.
Dass in dieser Pandemie so viel Missbrauch mit Wissen und Wissenschaft betrieben werden konnte, liegt auch hieran. Die kapitalistische Denkweise, die Ökonomisierung von Wissenschaft und Forschung, die gute Wissenschaftliche Praxis wird quasi verunmöglicht, solange man nicht auf einer Professur hockt. Aber – wie bereits ausgeführt – wird man schon im Studium in dieses prekäre Leistungssystem, in dem man nur durch Durchsetzungsstärke im Konkurrenzkampf, Ellenbogenmentalität und Masse statt Qualität gewinnen kann, hineinsozialisiert - von der kapitalistischen Gesellschaft überall sonst ganz zu schweigen!
4 Forderungen
- Wir wollen Entfristung und Schluss mit der prekären Arbeit für alle Beschäftigtengruppen!
- Wir wollen, dass alle studieren können und für ihr Auskommen großzügig gesorgt wird!
- Wir wollen Gesundheitsschutz für Alle Mitglieder der Hochschulen während der Pandemie, aber auch sonst!
- Wir wollen eine Auflösung des Lehrstuhlprinzips - Schluss mit dem Hochschulfeudalismus!
- Wir wollen ein Ende des Leistungsdrucks - Hochschulen für Alle und Zeit zum Lernen!
- Wir wollen die Hochschulen demokratisieren, sie von denen mitbestimmt werden, die dort lernen und arbeiten!
Als Studierende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft wollen wir uns Ökonomisierung entgegenstellen, die Gemeinwohlorientierung der Hochschulen ausweiten, Räume für kritischen Denken, emanzipatorisches Lernen und freie Wissenschaft schaffen. Hochschulen müssen Treiber der solidarisch-ökologischen Transformation und nicht Handlanger des Kapitalismus sein. Corona hat nur nochmal gezeigt, dass es so nicht weitergeht.